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Marstrand

Herrenclub, Piratennest und königlicher Spielplatz

 

Marstrand ist eine kleine Insel mit einer großen Vergangenheit und einer sehr lebhaften Gegenwart. Nur über ihre Zukunft scheiden sich die Geister – doch wer kann schon in die Zukunft schauen? Ein Inselporträt von Detlef Jens

Wie viele Inseln, Eilande und Schären vor den Schwedischen Küsten herum liegen, hat so ganz genau noch niemand gezählt. Marstrand, gelegen an der Westküste nicht weit von der Trend-Metropole Göteborg entfernt, ist eine, aber beleibe nicht irgendeine, davon. Sommer für Sommer versammelt sich für zwei, drei Monate die große Welt auf dem kleinen Felsen, wenn die Segler und Sommerhausbesitzer da sind und wenn womöglich noch eine internationale Regatta stattfindet, welche die Schaulustigen zu hunderten anzieht.

 

Berühmte Yachten gab und gibt es hier etliche, und die bringen meist auch berühmte Leute mit sich. Oder umgekehrt, denn allen voran war es König Oscar II von Schweden, der zuerst im Jahre 1887 mit seiner Yacht Drott anreiste und fortan, bis kurz vor seinem Tod 20 Jahre später, mindestens einen Monat pro Sommer hier verbrachte. Wenn sein Schiff zwischen den Inseln Marstrandsön und Koön vor Anker ging, war die festliche Saison eröffnet. Denn solange sich der König hier aufhielt, stand Marstrand im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens. Bälle, Konzerte, Empfänge und kulturelle Veranstaltungen jagten einander und wer überall dabei sein wollte, musste einen dicht gedrängten Terminkalender managen.

 

Lange Geschichte

Doch die Geschichte von Marstrand reicht viel weiter zurück und nicht immer war die Gesellschaft hier so fein wie zu Oscars Ferienzeiten. Mit dem Bau der markanten Festung zum Beispiel wurde schon 1658 begonnen und aus jener Zeit, mutmaßen manche, könnte auch ein kurioser Club stammen: Der »Marstrands Klubb« wäre damit der älteste noch aktive Club der Welt. Sein Vorsitzender ist Sigvaard Sakelariu, von griechisch-ungarischer Abstammung, doch geboren in Marstrand. Gemeinsam mit seinem Bruder Georg betreibt er eine Institution auf der Insel: Ein Laden, gegründet 1906 von Axel Hellmanns, für Zigarren, Tabak und andere Naschereien. Die Brüder übernahmen den Laden 1977, und seitdem war der Laden jeden Tag geöffnet. Wirklich jeden. Ob Orkan oder Hochwasser oder Dürre, Silvester oder Sonnenfinsternis oder Sonntag: Egal was passiert, Hellmanns Laden an der Pier von Marstrand hat geöffnet. Es ist ein wunderbarer altmodischer Laden, mit Süßigkeiten und Papierwaren und Getränken und Andenken und, natürlich, immer noch Zigarren und Zigaretten und, nebenan, Kinderklamotten. Im Winter leben nur rund 350 Menschen auf der Insel, die meisten Häuser stehen dann leer, im Sommer ist es dafür umso voller. Sigvaard bedauert das: »Als wir mit dem Laden anfingen war dies noch ein lebhafter Ort, auch im Winter!« Sein Bruder und er werden zwar so weiter machen, doch wenn sie einmal in den Ruhestand gehen? Ihre Kinder haben kein Interesse daran, den Laden zu übernehmen, denn die Jungen haben andere Interessen. Und die Alten können das verstehen: »Marstrand hat sich doch sehr verändert!«

 

Der Herrenclub

In einer kleinen, abgelegenen Gemeinschaft spielen Clubs offenbar eine wichtige Rolle. Der Marstrands Klubb sei vermutlich, glaubt Sigvaard Sakelariu, von den Offizieren gegründet worden, die einst beim Bau der Festung hier stationiert waren: »Das war damals eine übliche Art, mit den zivilen Bewohnern eines Ortes in Kontakt zu kommen!«. Dokumente hierüber gibt es keine, nur eine Einladung aus dem Jahre 1810 – zu einem Empfang in das »neue« Clubhaus. Soviel steht damit also schon einmal fest, dass der Club nämlich auf jeden Fall älter als 200 Jahre ist. Obendrein ist er, vermutlich, einer der letzten im modernen Westeuropa, in dem ausschließlich Männer zugelassen sind. Weitere Aufnahmekriterien gibt es keine, wenn man einmal von der gewollt weitläufigen Bedingung absieht, dass ein Mitgliedskandidat irgendeine Beziehung zu Marstrand haben solle. Und dass Mann sich nicht selber um eine Aufnahme bemühen kann, sondern dazu eingeladen werden muss.

 

»Früher, so vor 15 oder 20 Jahren, haben wir ab und zu auch mal die Damen mit eingeladen«, erzählt Sigvaard, aber das habe man dann wieder aufgegeben. Die Herren bleiben lieber unter sich und treffen sich sieben Mal im Jahr, jeweils am 3. Donnerstag der Monate September, Oktober, November, Januar, Februar, März und April zu Bohnensuppe mit Wurst und Schwein, dazu gibt es heißen Schwedenpunsch und Schnaps und Bier (kalt) und man sitzt einfach beieinander und redet und hat dabei, wie Sigvaard versichert, vor allem sehr viel Spaß.

 

Den hatten, damals um 1658, die Offiziere und Soldaten beim Bau der Festung eher nicht. Der damalige König Carl Gustav jedenfalls erkannte die strategisch wichtige Lage des im Winter eisfreien Hafens an der geografischen Grenze von Kattegat und Skagerrak. Als Marstrand durch den Frieden von Roskilde schwedisch wurde, ließ er gleich mit dem Bau der Festung beginnen, die heute als Carlstens Fästning über all dem unbeschwerten sommerlichen Treiben auf Marstrandsön thront. Als militärische Einrichtung freilich war das trutzige Bauwerk nicht sehr erfolgreich. Zweimal wurde es angegriffen, und beide Male vom Feind relativ mühelos eingenommen. 1677 eroberte der dänische Statthalter von Norwegen die Festung und 1719 schaffte es der norwegische Admiral Tordenskjold gleich noch einmal.

 

Eine Festung als Seezeichen

Bessere Qualitäten beweist der finstere Bau als Seezeichen für die Ansteuerung nach Marstrand, denn der unverwechselbare Turm ist schon –zig Seemeilen draußen vom Skagerrak, oder Kattegat, aus sichtbar. Und auch als Gefängnis eignete sich die Festung. Ihr berühmtester Insasse war ein gewisser Lasse Maja, ein erfolgreicher Dieb, der heute bisweilen als eine Art schwedischer Robin Hood verklärt wird. Lange Zeit entging er seinen Verfolgern, weil er sich vorzugsweise als Frau verkleidete. 1813 jedoch wurde dieser seltsam veranlagte Dieb trotz seiner Neigungen gefasst und verurteilt. Seiner gewählten Rolle als Frau blieb er dennoch treu und entzog sich der mörderischen Zwangsarbeit dadurch, dass er sich als »Köchin« verdingte. Nach 26 Jahren schließlich wurde die Dame – pardon: der Herr – schließlich von König Karl Johann begnadigt.

 

Das wäre gar nicht nötig gewesen, wenn Lasse Maja zu Zeiten des Freihafens Marstrand gelebt hätte. Von 1775 bis 1794 galt Marstrandsön als »Freie Zone«; die Ladung der zahlreichen hier anlegenden Schiffe wurde zollfrei in den Schuppen der Insel gelagert und die Schmuggelei über die schmalen Gewässer zu den Nachbarinseln erlebte einen enormen Boom. Gleichzeitig gab es Religionsfreiheit, so dass sich auch Juden hier niederließen und die erste Synagoge in Skandinavien bauten. »Und sie ist immer noch da«, beteuert die in Marstrand lebende Krimiautorin Ann Rosman, die sich intensiv mit der Geschichte der Insel beschäftigt: »Sie befindet sich in einem Privathaus. Und wenn man ganz nett fragt, darf man hinein und sie sich ansehen. Ich habe es getan!« Lasse Maja indes hätte sich vor allem für den damaligen Paragraf Neun der Inselstatuten interessiert. Denn der sicherte allen Dieben Straffreiheit zu, solange sie sich auf dem Eiland aufhielten, die Straftat anderswo begangen und kein Verbrechen gegen »Leben und Ehre« begangen hatten. »Man wurde als Dieb hier quasi willkommen geheißen. Man wurde in ein Buch eingetragen und solange man auf der Insel blieb, konnte man sich als freier Mensch fühlen!«, erklärt Ann Rosman.

 

Marstrand-Krimis von Ann Rosman

Ihre Bücher handeln von Verbrechen, die lange zurück liegen und auf die eine oder andere Art mit einem aktuellen Fall aus der Gegenwart verbunden sind. Die Faszination für die Geschichte der Region lernte sie von ihrem Vater. »Jeden Sommer segelten wir sechs Wochen lang und mein Vater redete immer und überall mit den alten Fischern, von denen es heute kaum noch welche gibt. Dabei hörte ich immer all diese Geschichten von der Küste und den Menschen, die hier unter sehr rauen Bedingungen lebten. Und ich liebe diese Geschichten!«

 

Im Sommer und vor allem heutzutage ist das Leben hier definitiv nicht rau. Dann spielt sich fast alles am Hafen ab, wobei die Insel durchaus, auf der zur See hin gewandten Seite und im »Märchenwald« unterhalb der Festung, auch vergleichsweise ruhige Ecken besitzt. Am Hafen jedoch trifft man sich zu jeder Tageszeit, beobachtet die vielen Schiffe und dabei, je nach Interessenslage, die Manöver der an- und ablegenden Yachten, deren Crews oder auch die Bootstypen selbst. Fröhlicher Trubel herrscht auf der alten Steinpier, auf der hier und dort auch Tische und Stühle vor Cafés oder Restaurants stehen. Am beliebtesten und belebtesten von allen ist immer noch das berühmte Café Berg mit dem Seglerfrühstück, den köstlichen Kuchen und leckeren Snacks. Schon frühmorgens stehen Segler und Inselbewohner einträchtig in der Schlange vor dem Laden, letztere oft auch noch ungekämmt und in Bademänteln, um ihre frischen Brötchen zu holen.

 

Inselleben am Hafen

Zu fuß, versteht sich, denn de facto ist die Insel Autofrei. Von ganz wenigen Ausnahmen einmal abgesehen bewegt man sich per pedes, per Fahrrad oder bevorzugt mit dem »Marstrand-Ferrari«, einem jener dreirädrigen Mopeds mit einer ausladenden Ladefläche vorm Lenker, auf denen Gepäck, Kinder, Einkäufe und Segel transportiert werden.

 

Wobei die Einkäufe nicht immer sperrig sein müssen. Im Sommer öffnen hier verschiedene Boutiquen für Trendklamotten. Und es gibt die Galerie von Carl-Michael Ström, seit 1996. Er selbst kam erstmals 1976 nach Marstrand. Und sah einen großen Mast: »Wow, das war der schwedische Zwölfer für den America’s Cup! Daneben lagen noch zwei, Noresca und Columbia. Diese drei Rennyachten wollte ich malen, und so wurde ich zum Segel-Maler!« Aber, behauptet Carl-Michael Ström, es sei harte Arbeit, bis heute: »Ich habe kein Talent, aber ich werde immer besser. Die Idee, meine Bilder auf Seekarten zu malen kam übrigens nicht von mir, sondern von einem Kunden, es war eine Auftragsarbeit. Und ich merkte, dass die Aquarellfarbe viel besser auf einer Seekarte hält!«

 

Seine Bilder, meist Segel- oder Schiffsmotive auf Seekarten, haben eine treue Fangemeinde. Ebenso, wie Marstrand selbst. Lediglich die Lokalpolitiker, poltert er, gehören wohl nicht dazu. »Seit 1974 ist Marstrand keine eigene Stadt mehr, sondern gehört zur Kommune Kungälv. Und die Herren aus dem dortigen Rathaus kommen höchstens mal im Sommer auf ein Glas Champagner in den Yachtclub. Sonst interessieren die sich nicht für Marstrand!« Tatsächlich, nach und nach schloss die Insel: Erst das Rathaus, dann die Bank, die Tankstelle, der Zahnarzt… nur die Schule, die eigentlich auch geschlossen werden sollte, bleibt vorerst auf der Insel.

 

Darüber freut sich vor allem Ann Rosman, deren älterer Sohn dort unterrichtet wird. »Es gibt rund 85 Kinder auf der Inselschule«, sagt sie, »und ich würde mir wünschen, dass man die Einzugartigkeit dieser Schule erkennt und nutzt. Denk doch mal, es ist eine Insel, ohne Autos, da könnten die Kinder alles machen. Sie könnten Segeln oder Angeln oder das Leben im Wasser erforschen, aus erster Hand, es ist doch alles da! Es wäre so viel besser, das zu erkennen und die Schule zu profilieren statt einfach nur zu sagen, sie sei zu teuer für die kleine Insel! Dann würden vielleicht auch mehr Eltern ihre Kinder dorthin schicken wollen, hier wohnen wollen…« Aber das steht nun fest: Die Schule bleibt. Vielleicht ist dies ja der Beginn einer neuen Zeit für Marstrand, in der es wieder zu einer lebendigeren Gemeinschaft wird. Nicht nur im Sommer, sondern auch im Winter. Vielleicht schaut Prinzessin Victoria von Schweden, die sich im Sommer angeblich gerne hier sehen lässt, dann auch einmal im Winter vorbei.

 

Die Bücher von Ann Rosman sind auch ins Deutsche übersetzt worden. Mehr dazu auf Literaturboot.de

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